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Was Literaturübersetzerinnen lesen

Ricarda Essrich,

Als Literaturübersetzerin ist Lesen für mich nicht nur Zeitvertreib, sondern immer auch Weiterbildung oder Training. Denn egal, wie unterhaltsam oder fesselnd das Buch ist, es liest doch immer auch die Übersetzerin in mir mit. Zumindest wenn es um Bücher in meinen Arbeitssprachen Schwedisch, Norwegisch und Dänisch geht. Deshalb lese ich sowohl in der Originalsprache (sofern ich ihr mächtig bin) als auch auf Deutsch.

  1. a) In Originalsprache, um sprachlich auf dem Laufenden zu bleiben, neue Wörter, Wendungen, Kollokationen usw. zu lernen. Darüber hinaus überlege ich mir, wie ich den Ton des Autors/der Autorin, feste Redewendungen oder Wortspiele beim Übersetzen rüberbringen würde.
  1. b) Auf Deutsch vor allem, wenn ich die Kolleginnen und Kollegen kenne, die die Bücher ins Deutsche übertragen haben. Das liegt zum einen daran, dass es unter uns Übersetzerinnen und Übersetzern inzwischen einen regen Austausch von Belegexemplaren gibt, denn wenn ein Buch vom Verlag veröffentlicht wird, bekommt man mehrere Belege, bei Romanen nicht selten 10 Stück pro Auflage. Aber darüber hinaus bin ich natürlich auch neugierig, wie die anderen arbeiten. Ich achte auf ungewöhnliche/interessante/schöne Formulierungen, stelle mir vor, was im Norwegischen, Dänischen oder Schwedischen gestanden haben könnte, und mache mir hin und wieder auch Notizen dazu. Der berühmte Blick über den eigenen Tellerrand hinaus.

Eine Auswahl der skandinavischen Titel, die mich 2020 begleitet haben

  • Måns Kallentoft/Markus Lutteman, übersetzt von Ulrike Brauns: Der Schrei des Engels. Ich lese die Reihe seit dem ersten Band und fand ich diesen (Nr. 4) sehr spannend, wobei mir der Band davor besser gefallen hat.
  • Jussi Adler Olsen, übersetzt von Hannes Thieß: Opfer 2117. Der 8. Fall für Carl Mørck und Hochspannung wie gewohnt bei diesem Autor.
  • Lars Lenth, übersetzt von Frank Zuber: Der Lärm der Fische beim Fliegen. Das war mal eine ganz andere Art von Krimi, in die Sprache und den Humor musste mich erst einlesen. Aber Lenths Bücher sind sehr lesenswert, und ich bin gespannt auf Band 2, der schon bereit liegt.
  • Jens Henrik Jensen, übersetzt von Friederike Buchinger: Oxen – Lupus. Band 4 der eigentlich als Trilogie angelegten Reihe um den Ermittler Oxen. Seit ich Friederike einmal bei einer inhaltlichen Fragen zu einem der vorherigen Bände geholfen habe, bedenkt sie mich mit Belegexemplaren. Ich könnte nicht sagen, welcher Band mir am besten gefallen hat, aber der vierte war auch wieder ein Pageturner.
  • Lars Kepler: Paganini-kontraktet. Meine erste Begegnung mit dem Autorenduo unter dem Pseudonym Lars Kepler. Ich bin Spätberufene, dieser Band ist schon 2011 erschienen. Bis heute habe ich alle weiteren Bände als Hörbücher gehört. Man könnte sagen, ich bin ein Fan.
  • Måns Kallentoft/Anna Karolina: Falco. Ein weiterer Band der Herkulesserie, dieses Mal schreibt Kallentoft nicht zusammen mit Lutteman, sondern hat sich weibliche Verstärkung geholt. Ich finde, man merkt einen leichten Bruch, ohne dass ich sagen könnte, ob mir das neue Duo besser gefällt als das erste.
  • Ketil Bjørnstad, übersetzt von Ina Kronenberger: Villa Europa. Manchmal braucht man zwei Anläufe, um zu entdecken, wie wunderbar ein Buch ist. Dieses hier ist so eines. Absolute Leseempfehlung. Erstaunt hat mich wirklich, dass eigentlich alle Männer in diesem Generationenroman nicht besonders gut weggekommen sind – ungewöhnlich bei einem männlichen Autor.

Am meisten beeindruckt und tief bewegt hat mich aber Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders von Åsne Seierstad, übersetzt von Nora Pröfrock und Frank Zuber. Seierstad beschreibt die Biografie und Hintergründe über den Attentäter von Utøya. Dieses Buch wird mir lange im Gedächtnis bleiben. Es ist wirklich harte Kost, und ich ziehe meinen Hut vor meinen Kollegen Nora Pröfrock und Frank Zuber, die sich als Übersetzer so lange so intensiv mit dieser Geschichte auseinandersetzen mussten. Ich selbst hatte mit dem Attentat im letzten Jahr im Rahmen einer Fachübersetzung (Bauausschreibung) zu tun, daher schien es mir der richtige Zeitpunkt, das Buch, das schon eine Weile in meinem Regal stand, zu lesen.

2021 jährt sich das Attentat zum zehnten Mal.

Bild: Ricarda Essrich

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